In "junge Welt" interessante Degenhardt-Rezension (Musik)
Kämpferische Zwischentöne
Lieder zur Zeit. Nach sechs Jahren hat Kai Degenhardt mit »Auf anderen Routen« ein neues Album veröffentlicht, das musikalisch wie inhaltlich überzeugt
(...) Kunst und populäre Kultur müssten sich, wollen sie nicht durch Schweigen zu alledem »ja« sagen, wollen sie die Welt um uns erhellen, statt sie zu verdunkeln, zu diesen Entwicklungen verhalten. Wir wissen: Sie tun es nicht. Oder viel zu Wenige tun es. Einer von ihnen ist Kai Degenhardt. Für den politischen Musiker, der diese Entwicklungen mit offenen Augen und wachem Geist verfolgt, bilden sie den Resonanzraum für seine Kunst. Und auch privat hat sich bei ihm viel getan – ein neuer Lebensabschnitt begann: Es ist das erste Album nach dem Ende einer langen Beziehung und Liebe. Sein inzwischen erwachsener Sohn Leo Klose hat diesmal das Albumcover in Öl gemalt. Und so begibt sich Kai auf neue Routen, jedoch ohne kehrtzumachen, denn, wie er in dem sehr persönlichen Stück »Die endlos lange Straße« singt, gilt ohnehin: »Es ist ja auch schon viel zu spät, um umzudrehen.«
Manche der neuen, anderen Routen führen Degenhardt aber nicht nur weiter nach vorne, sondern teilweise auch weit in die Vergangenheit zurück, werkbiographisch wie musikgeschichtlich. Musikalisch ist Kai Degenhardts neues Album ein wahrer Genuss. Seinen Freunden erzählte er immer wieder, er wolle weg vom technisch versierten Mehrebenengitarrensound mit Loops und Effekten, wie er ihn vor allem auf seinem vierten Album »Weiter draußen« (2008) perfektionierte, und zurück zum minimalistischen Livesound. Wäre Degenhardt back to the roots gegangen, dann hätten wir eine Mischung aus Billy Bragg und dem Bob Dylan der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erwarten können, jenen recht harten, elektrisch verstärkten, Geschichten erzählenden Gitarrensound seiner ersten beiden Alben »Brot und Kuchen« (1997) und »Dekoholic: von vorgestern nach übermorgen« (1999). Tatsächlich hatte sich mit seinem fünften Album »Näher als sie scheinen« (2012) eine solche Wende angedeutet.
Allerdings kann von Minimalismus keine Rede mehr sein. Statt dessen erinnert das neue Album, eingespielt in kleiner Folkbesetzung, an den warmen, vielschichtigen Sound von Degenhardts »Briefe aus der Ebene« (2003), den der ehemalige Anarchist-Academy-Rapper Hannes Loh im Magazin Intro einmal als »Charme, dem man schnell erliegt«, beschrieb. Ja, »Die Überfahrt« erinnert in seiner tänzelnden Traumhaftigkeit an eines der wohl schönsten Kai-Degenhardt-Lieder, an »Tag im Mai« von eben diesem Album.
Man hört über die kurzweiligen 44 Minuten hinweg eine Unmenge an Klangfarben und Stilrichtungen: elektrisch verstärkte und klassisch gezupfte Gitarren, Schlagzeug, einen jazzigen Kontrabass, Klavier, schwelgende Violinen, warme Bläser wie French Horn und Trompete, sogar Akkordeon und Farfisa-Orgel. Einen großen Anteil an dieser Soundkulisse hat Goetz Steeger, mit dem Degenhardt sein Album eingespielt hat. Degenhardt beherrscht seine Gitarre wie beinahe kein anderer der gegenwärtigen deutschsprachigen Singer/Songwriter. Wir hören klassische Gitarren und nennen sie heute »spanisch«, schlicht, weil man sie bei Degenhardts weitaus erfolgreicheren »Kontrahenten« nicht zu hören bekommt, denn die allerwenigsten spielen so virtuos. Tatsächlich: Das, was man an den späteren Alben von Franz Josef Degenhardt an Wohlklang so sehr schätzte, war eigentlich immer schon der Sohn, der an den Aufnahmen und Auftritten seit den späten 1980er Jahren maßgeblich beteiligt war. Und auch im Verhältnis zu seinem Vater war und blieb Kai stets der bessere Musiker.(...)
Vollständiger Artikel hier: http://www.jungewelt.de/artikel/339...pferische-zwischent%C3%B6ne.html
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- In "junge Welt" interessante Degenhardt-Rezension - Sarah, 12.09.2018, 06:43
- In "junge Welt" interessante Degenhardt-Rezension - Sarah, 14.09.2018, 18:03