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Akkordeon im November (Gesellschaft)

verfasst von Christine(R), 26.05.2022, 13:39

Gestern in der Stadt unterwegs. Eines meiner Lieblingslieder von Wenzel plötzlich aus gegebenem Anlass in den Ohren...auch wenn jetzt Mai ist und nicht November.

Akkordeon im November Wenzel

Er sitzt in der unteren Schlosspassage
am Bauzaun,
wo die alten Straßenbahngleise
sich nutzlos ziehn durch Novembertage
und spielt voller Inbrunst
eine deutsche Weise
auf perlmuttbesetztem Akkordeon
untern Bögen vom barocken Portal;
lang schon ist von zu Hause
er auf und davon: aus dem Kaff weg,
dort hinterm Ural.

Da war er Rachmaninow-Spezialist,
ein Wunderkind mit Orden und Preisen;
bis sein Theater verschwunden ist,
es war Pleite,
da ging er auf Reisen.
Europa ist reich, und Klavierspielen schwer
und das Glück liegt hinter sieben Hügeln;
doch wo er auch hinkam
saß immer schon wer
im Frack vor den teueren Flügeln.

Ein nutzloser verdienter Volksmusikant,
keiner kennt sein Swerdlowsk,
sein Theater.
Man bezweifelt selbst dass er Klavier spielen kann
so ohne Agent und Berater.
Ein Bettler,
die Harmonika auf dem Knie,
als glaubte er nicht mehr daran,
dass allein die Musik mit ihrer Magie
noch die Herzen betören kann.

Er spielt: er sei blind,
Laub und Hundekot
sind sein Bühnenbild, zerrissen die Hose;
hinter dem Pappschild: „Helft mir aus der Not“
auf der Konservendose;
er hört sehr genau, wenn die Münze fällt:
macht Verachtung oder Achtung sie schwer...
So schafft er sich Ordnung in der dunklen Welt
mit seinem
absoluten Gehör.

Und wenn ein Fünfmarkstück
im Blechnapf klingt
wird voller und lauter sein Ton:
als ob er
ein neues Musikstück beginnt
auf einem bess'ren Akkordeon.
Ich denk', als sein Lied in die Weite fällt,
weil mein Weg hoch zur Burg ansteigt:
es ist schade, dass uns fast nur noch das Geld
zu den größeren Mühen antreibt.

Als wären die anderen Gründe banal,
nur Hunger kann uns noch erwecken.
(Das sage ich, der ich höchstens dreimal
gehungert, um abzuspecken...)
Ich gebe ihm nichts,
auf die Stadt fällt der Schnee,
sein Lied dringt noch lange zu mir –
und ich weiß:
er spielt viel besser als je
ich spielen werd'
Schifferklavier.

 

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